Seit 2012 arbeitet das ECCHR mit syrischen Betroffenen, Menschenrechtsaktivist*innen und Jurist*innen zusammen, um die schweren Verbrechen des Assad-Regimes gegen die eigene Bevölkerung strafrechtlich aufzuarbeiten. Damit auch die Taten der pro-türkischen und islamistischen Milizen gegen die kurdische Bevölkerung in Syrien untersucht werden, haben wir gemeinsam mit sechs Überlebenden und der Organisation Syrians for Truth and Justice (STJ) und ihren Partner*innen im Januar 2024 bei der Bundesanwaltschaft Strafanzeige erstattet.
Dieses Dossier bietet einen Überblick über die politische und militärische Lage in der nordsyrischen Region Afrin seit dem Ausbruch des Bürgerkriegs und stellt die Strafanzeige sowie weitere Materialien zur Verfügung. Sie sollen sowohl die politische Dimension des Konfliktes als auch die Herausforderungen bei der strafrechtlichen Aufarbeitung der begangenen Völkerrechtsverbrechen einordnen. Es soll ständig weiterentwickelt und aktualisiert werden, sobald neue Informationen zur Verfügung stehen.
Seit Beginn des Aufstands in Syrien im März 2011 kommt es im Land zu Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, begangen von fast allen an dem Konflikt beteiligten Gruppierungen — allen voran der syrischen Regierung, dem Islamischen Staat (IS) und anderen Milizen.
Eine Aufarbeitung dieser internationalen Verbrechen findet seit 2011 nur in Ansätzen und ohne Beteiligung des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag statt. Da Syrien kein Vertragsstaat des Römischen Statuts ist, kann der Gerichtshof die begangenen Verbrechen nur untersuchen, wenn der UN-Sicherheitsrat ihn dazu auffordert. Dies ist bezüglich Syriens bereits mehrmals, zuletzt 2015, am Veto Russlands und Chinas gescheitert.
Daher rückten Strafverfahren nach dem sogenannten Weltrechtsprinzip in den Fokus. Dieses ermöglicht Staaten Völkerstraftaten unabhängig davon zu verfolgen, wer sie begangen hat, wo sie begangen wurden oder gegen wen sie gerichtet waren. Staatsanwaltschaften in Deutschland , Frankreich, Schweden , den Niederlanden, Norwegen und anderen Ländern haben dahingehend beachtliche Erfolge erzielt. Es gab Haftbefehle gegen hochrangige Täter und eine zweistellige Zahl von Strafverfahren, von denen die meisten mit Verurteilungen endeten.
Der Fall Syriens ist insofern sowohl ein Beispiel für die Leistungsfähigkeit der internationalen Strafjustiz als auch für ihre Selektivität. Denn nach wie vor gibt es eklatante Lücken in der Aufarbeitung der schweren Verbrechen. Und wie so oft scheint sie vor allem vor politisch mächtigen Tätern Halt zu machen. So gibt es, bis auf eine Ausnahme, keinerlei Aufarbeitung der Rolle westlicher Unternehmen an dem Konflikt und den darin begangenen Gewalttaten. Lediglich gegen den (heute zum Unternehmen Holcim gehörenden) Zementhersteller Lafarge wird seit 2016 in Frankreich ermittelt, nachdem das ECCHR 2016 gemeinsam mit elf Überlebenden und der französischen NGO Sherpa Strafanzeige gegen das Unternehmen eingereicht hat.
Erklärvideo: Was ist das Weltrechtsprinzip?
Mit der vorliegenden Strafanzeige versuchen wir eine weitere Lücke in der Aufarbeitung der Verbrechen zu schließen: die Gewalttaten des türkischen Militärs und der zum Teil eigens von der Türkei für diesen Zweck gegründeten Milizen, um die entstandene kurdische Selbstverwaltung in Nordsyrien anzugreifen.
Die vor allem an der kurdischen, aber auch der jesidischen Bevölkerung Afrins begangenen Verbrechen der Milizen – Morde, Plünderungen, Vertreibung, Entführungen, Vergewaltigungen – fanden außerhalb Syriens kaum Beachtung. So blieb eine strafrechtliche Aufarbeitung dieser Gewalttaten bislang aus. Während einige Aspekte des Gewaltpanoramas in Syrien relativ genau aufgearbeitet wurden, klafft hier eine riesige Lücke. Liegt das daran, dass viele Verbrechen auf Geheiß und mit Unterstützung der Türkei begangen wurden?
Juristisch ist es einfacher, zunächst gegen die direkten Täter*innen innerhalb der Milizen vorzugehen, die nur selten die türkische Staatsangehörigkeit haben. Gegen sie richtet sich die im Januar 2024 eingereichte Strafanzeige. Ihre Taten lassen sich aber nicht ermitteln, ohne indirekt auch Erkenntnisse über die Beteiligung der Türkei zu erlangen. Wer sich die ausgeübte Gewalt genauer ansieht, entdeckt schnell, dass Ankara viele Aktionen der Milizen in Afrin direkt kontrolliert und steuert.
Ermittlungen in Deutschland, bei denen auch Soldat*innen, Geheimdienstagent*innen und Politiker*innen eines NATO-Verbündeten einbezogen werden müssten, sind politisch heikel. Für ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren darf das aber keine Rolle spielen, will man die Glaubwürdigkeit der internationalen Strafjustiz behaupten. Denn nur wenn Völkerrechtsverbrechen lückenlos – das heißt auch gegen eigene Verbündete, eigene Soldat*innen und eigene Unternehmen – aufgeklärt werden, können wir dem immer häufiger von den Despoten und Diktatoren dieser Welt vorgebrachten Argument, das Völkerrecht sei ein neokoloniales Machtinstrument des „Westens“ als das entlarven, was es häufig ist: Ein populistisches Feigenblatt, um von den eigenen Verbrechen abzulenken.
Vor dieser politischen Dimension der Strafanzeige steht die persönliche: Zigtausende Menschen haben Angehörige verloren, mussten vor den Gewalttaten fliehen und ihre Familien und ihr gesamtes Hab und Gut zurücklassen. Sie sind nun in Staaten, in denen sie als Zeug*innen gegenüber den hiesigen Behörden aussagen und wichtige Beweise liefern können. Durch die Anzeige sind sie aber viel mehr als das: Sie sind Anklagende in eigener Sache geworden, die ihren Schmerz und ihr Leid nicht länger passiv erdulden wollen, sondern es in eine juristische Initiative und politische Forderung nach Aufarbeitung und Gerechtigkeit verwandelt haben.
Der Konflikt zwischen Kurd*innen und dem türkischen Staat hat eine lange Geschichte. Sie geht zurück auf die Kapitulation des Osmanischen Reiches (1917), den anschließenden Befreiungskampf (1918) gegen die Aufteilung Anatoliens durch die Sieger des ersten Weltkriegs – Großbritannien, Frankreich, Italien und Griechenland – und auf ein gebrochenes Versprechen des ersten Präsidenten der heutigen Türkei, Mustafa Kemals: ein gemeinsamer Staat von Türk*innen und Kurd*innen im Gegenzug für die Unterstützung der kurdischen Stammesführer und Politiker gegen die Besatzer. Dieses Versprechen wurde nie eingelöst. Stattdessen begann nach der Gründung der Republik Türkei im Jahr 1923 für alle anderen ethnischen Gruppen des ehemaligen Osmanischen Reiches die Unterordnung unter die türkische Kultur und Sprache. Im Zuge zahlreicher Umsiedlungsmaßnahmen mit Deportationen von Kurd*innen und Neuansiedlungen von Türk*innen verloren viele Kurd*innen ihre Heimat, der Gebrauch der kurdischen Sprache wurde ihnen verboten.
In der Region Afrin gibt es seit jeher eine kurdische Bevölkerung, dazu Christen und Êzîdi, aber auch Alevit*innen aus der Türkei, etwa aus Dersim/Tunceli, die den großen Massakern im Jahr 1938 entkommen konnten. Kurd*innen in Syrien unterlagen seit jeher einer systematischen Diskriminierung und Ausgrenzung. Allein im Nordosten Syriens wurde Mitte der 1960er Jahre ca. 120.000 Kurd*innen die syrische Staatsangehörigkeit entzogen, sie wurden damit zu Staatenlosen im eigenen Land, nicht nur ohne Pässe, sondern auch ohne Eigentumsrechte auf Land oder Nutzvieh und ohne die bestehende Rechte anderer syrischer Bürger*innen, wie etwa das formelle Wahlrecht. Dieser beispiellos despotisch-bürokratische Akt wurde damit begründet, dass die damals schnell wachsende kurdische Bevölkerung den „arabischen Charakter“ des Landes gefährden würde. Im gleichen Zeitraum begann ein staatlicher Arabisierungsplan der Region, der darauf abzielte, die durchgehende kurdische Besiedlung der fruchtbaren und ölreichen Region zu spalten. Für diesen Zweck wurde ein 350 km langer und 10-15 km breiter Landstreifen zwangsarabisiert, in dem gezielt arabische Dörfer für arabische Siedlerfamilien gebaut wurden, die ihr Land im Zuge des Baus von Talsperren im zentralen Syrien verloren hatten. Die Regierung enteignete dafür zwei Millionen Hektar Anbaufläche von kurdischen Bauern.
Bis zum Anfang der syrischen Demokratiebewegung im Frühjahr 2011 blieb die kurdische Region bis auf wenige Ausnahmen, wie die Proteste im Jahr 2004, eher im Schatten der syrischen Innenpolitik. Das Regime verwaltete die Region mittels Polizei- und Geheimdiensteinheiten, die allesamt aus Zentralsyrien stammten, ebenso wie Ingenieure und Facharbeiter in der Ölförderung. Auch die Mehrzahl der Lehrer*innen und Akademiker*innen in der Region waren nicht kurdisch. Die kurdische Sprache wurde staatlicherseits nicht gelehrt und es war nur wenigen Kurd*innen möglich, Positionen im höheren regionalen Beamtenapparat zu erreichen.
Das autokratische politische System in Syrien bestand jahrzehntelang aus einem nahezu lückenlosen Sicherheitsstaat, der eine grausame Repression mit gezielter politischer Kooptierung verband. Die regierende Baath-Partei stand an der Spitze dieser Struktur, vertrat einen radikalen Arabismus und lehnte gleichzeitig jede Form kurdischer Identität ideologisch ab, indem sie diese als Verrat an der "arabischen Nation" bezeichnete. Kurdische Parteien durften am politischen Prozess teilnehmen , wenn sie im Interesse des Regimes handelten, beispielsweise gegen die Türkei. Dennoch gab es vor 2011 in Nordsyrien eine im Vergleich zu anderen Teilen des Landes relativ aktive und heterogene politische kurdische Bewegung. Zu diesen kurdischen politischen Parteien gehörte die Partei der Syrisch-Kurdischen Demokratischen Union (Partiya Yekitîya Demokrat, PYD), die aus der Arbeiterpartei Kurdistans (Partiya Karkerên Kurdistan, PKK) in der Türkei hervorgegangen ist und politische Forderungen der syrischen Kurden an den syrischen Staat richtete. In einigen Gebieten Nordsyriens, wie Afrin, war die PYD fest in der Gesellschaft verankert, während sie andernorts beispielsweise von anderen kurdischen Parteien oder Teilen der arabischen Bevölkerung stark kritisiert wurde.
Im Zuge der ausbrechenden Massenproteste in Zentralsyrien zog das Regime im Sommer 2012 seine Sicherheitskräfte aus den überwiegend kurdischen Gebieten in Nordsyrien ab um seine Ressourcen darauf zu konzentrieren, die Demokratiebewegung im Zentrum und anderen Städten im Land zu ersticken. Es wurden nicht nur Militärs, Polizisten und Geheimdienstmitarbeiter abgezogen, sondern auch hochrangige Baath-Beamte, Ölingenieure und Verwaltungsbeamte flohen aus der Region. Die PYD und verbündete Parteien versuchten, das politische Vakuum zu füllen. Eine angebliche Vereinbarung zwischen der PYD und dem syrischen Regime sah vor, dass jede Seite den Status der anderen Seite tolerieren würde.
Es entstand eine weitgehend autonome Selbstverwaltung – ein historischer Schritt für die kurdische Selbstbestimmung. Die Selbstverwaltung sollte nicht zuletzt die kurdische, ethnisch und religiös heterogene Bevölkerung vor dem Machtanspruch und der eliminatorischen Gewalt radikal-islamistischer Milizen schützen. Statt sich an der Seite der syrischen Opposition und anderer kurdischer Parteien der Revolution in Zentralsyrien anzuschließen, konzentrierte sich die PYD auf den Aufbau ihrer autonomen Selbstverwaltung. Die anfängliche Zusammenarbeit zwischen arabischen, syrischen und kurdischen Gruppen in der Protestbewegung nahm unter anderem aus diesem Grund im Laufe des Bürgerkriegs weiter ab.
Ihr Gebiet umfasste bald den gesamten Nordosten Syriens. Die Expansion verdankten sie ihrem Kampf gegen den IS und der Duldung der PYD durch die syrische Regierung. Unterstützt von der internationalen Anti-IS-Koalition vertrieben sie die Dschihadisten und übernahmen deren Territorien. Langfristig wollte die PYD den sogenannten “Demokratischen Konföderalismus” umsetzen, also die Idee einer demokratisch-ökologischen Zivilverwaltung, die weder Grenzverschiebungen noch Eigenstaatlichkeit propagiert, sondern sich auf kommunaler Ebene konstituiert. Damit einhergehend sollten die Rechte der Frauen gestärkt, das Rechtswesen und die Institutionen säkularisiert und zu einem gewissen Grad die Interessen der ethnischen und religiösen Minderheiten eingebunden werden.
Trotz dieser Versuche und der erfolgreichen Umsetzung einiger demokratischer Praktiken im Vergleich zu anderen Teilen Syriens, insbesondere denen unter dem syrischen Regime, blieb die autonome Selbstverwaltung der PYD autoritär und wollte ihren Anspruch auf die Region aufrechterhalten. Dabei beging sie erhebliche Menschenrechtsverletzungen, unterdrückte und verfolgte andere politische Parteien und deren Mitglieder sowie Teile der arabischen Bevölkerung.
Die politischen wie militärischen Feindseligkeiten seitens der Türkei verschärften die bestehenden autoritären Tendenzen innerhalb der PYD. Dies führte zur sozialen Ausgrenzung kurdisch-syrischer Kritiker*innen, zur Verfolgung ihrer Parteien und Vereine sowie zur Zensur von Veranstaltungen und Veröffentlichungen.
Schon seit 2015 verschärfte die Türkei die Gewalt gegen die pro-kurdische Oppositionspartei in der Türkei, die Demokratische Partei der Völker (Halkların Demokratik Partisi, HDP), und die kurdischen Regionen im eigenen Land und schlug Aufstände in Diyarbakır, Mardin und Cizîrê nieder. Seit 2016 konzentriert sich die neo-osmanische Expansionspolitik Erdoğans zunehmend auf die kurdische Region im Norden Syriens. Zwischen 2016 und 2019 führte die Türkei in der Region drei aufeinanderfolgende Militäroffensiven durch, um das an die Türkei grenzende kurdische Selbstverwaltungsgebiet militärisch zu verkleinern. Die zweite türkisch geführte sogenannte Operation “Olivenzweig” ab Januar 2018 markiert den Beginn des Tatzeitraums der vorliegenden Strafanzeige. Die Operation zielte einerseits darauf ab, die militärische und politische Kontrolle über die Region Afrin zu erlangen, die die Türkei bis heute innehat, und andererseits die vorwiegend kurdisch-stämmige Bevölkerung zu vertreiben.
Der türkische Einmarsch nach Afrin im Januar 2018 ist der bislang letzte Versuch der Türkei, diesen Konflikt militärisch zu lösen. Offiziell wird Afrin seit März 2018 zwar durch syrische Lokalräte verwaltet, de facto kontrolliert jedoch die Türkei die Region. Die bewaffneten islamistischen Milizen, die zuvor schon unter dem Dach der Syrian National Army (SNA) vielerorts Verbrechen begangen haben, errichteten eine Willkürherrschaft: Mit Wissen der Türkei begehen sie systematisch Gräueltaten wie willkürliche Verhaftungen von Zivilist*innen, sexualisierte Gewalt, Folter, systematische Plünderungen und Tötungen. Das kurdische Neujahrsfest Newroz wurde endgültig verboten. Straßennamen und Lehrpläne wurden vom Kurdischen ins Türkische oder Arabische geändert. In Afrin, das zuvor die am dichtesten kurdisch besiedelte Region Syriens war, sind Kurd*innen inzwischen die Minderheit. Die Bevölkerung soll - wie in den Jahrzehnten zuvor - entweder assimiliert, vertrieben oder zerstört, vor allem aber die kurdische Autonomie verhindert werden. Türkische Politiker*innen sprechen von Afrin als einem Teil des mystischen „Roten Apfels“ („Kızıl Elma“), der sinnbildlich für die imperialen Bestrebungen des Osmanischen Reichs steht. Afrin nimmt so einen zentralen symbolischen Platz in der expansiven Großmachtpolitik der Türkei ein.
Ausführungen über die Ausgangslage, den Aufstand in Syrien, die Zeit der Autonomen Verwaltungszone Nord- und Ostsyrien, die Rolle der Türkei sowie die „Operation Euphrat-Schild“ und die „Operation Olivenzweig“ und den derzeitigen Status Quo sind zudem in der Strafanzeige auf den Seiten 16–27 zu finden.
Informationen über die Syrian National Army (SNA) und ihre bewaffneten Milizen, deren Gewaltverbrechen sowie den Einfluss der Türkei sind auf den Seiten 28–38 erläutert.
Ein Überblick über die politischen und militärischen Entwicklungen in Afrin seit dem Aufstand in Syrien 2011 sowie über die Bemühungen der strafrechtlichen Aufarbeitung der begangenen Völkerrechtsverbrechen an der dort lebenden Zivilbevölkerung:
Als großflächige Proteste gegen das Assad-Regime Anfang 2011 das Land erfassen, kommt es kurze Zeit später auch in den mehrheitlich kurdisch besiedelten Regionen im Norden Syriens zu Demonstrationen. Zentrum der Proteste ist jedoch der Süden des Landes. Die Regierung antwortet mit Härte und Brutalität auf die Proteste der Opposition.
Seit 2011 ermittelt der Generalbundesanwalt gegen mehrere Personen im Zusammenhang mit Verbrechen in Syrien und im Rahmen eines Strukturermittlungsverfahrens, um die Systematik der Verbrechen des Assad-Regimes zu untersuchen. Das ECCHR hat seit 2017 gemeinsam mit fast 100 syrischen Folterüberlebenden, Angehörigen, Aktivist*innen und Anwält*innen in Deutschland, Österreich, Schweden und Norwegen eine Reihe von Strafanzeigen zu Folter in Syrien eingereicht, die zu den Ermittlungen beigetragen haben.
Während die syrienweiten Proteste im Juli 2012 in einen Krieg eskalieren, zieht sich das Assad-Regime nach Absprache mit der kurdischen Partei PYD (Partiya Yekîtiya Demokrat, PYD) aus weiten Teilen des Nordens zurück. Auch aus Afrin zieht die syrische Armee kampflos ab. In diesem Machtvakuum entsteht ein neues System der regionalen Autonomie und der kurdischen Selbstverwaltung unter Führung der PYD und ihrem bewaffneten Arm, den Volksverteidigungseinheiten YPG/YPJ (Yekîneyên Parastina Gel/Jin).
Afrin ist nach Ausbruch des syrischen Bürgerkriegs einer der sichersten Orte des Landes. Zigtausende Menschen aus anderen umkämpften Teilen Syriens flüchten in die Region, so zum Beispiel aus dem benachbarten Aleppo. Afrins landwirtschaftlich geprägte Wirtschaft, die für den Anbau und die Verarbeitung von Oliven, Zitrusfrüchten und Granatäpfeln bekannt ist, kann in dieser Zeit sogar wachsen.
Im August 2014 leitet die Generalbundesanwaltschaft ein zweites Strukturermittlungsverfahren zu Syrien ein, das die Verbrechen aller nicht-staatlichen bewaffneten Akteure, insbesondere des Islamischen Staats, ermitteln soll.
Im März 2016 ruft die Selbstverwaltung offiziell die Demokratische Föderation Nordsyrien – Rojava aus, welche die drei Kantone Afrin (Efrîn), Kobanê und Cizîrê umfasst. Später wird sie in Autonome Administration von Nord- und Ostsyrien (AANES) umbenannt.
Die PYD und ihr bewaffneter Arm, die Verteidigungseinheiten YPG/YPJ, sind eine der tragenden Säulen im Kampf gegen den IS, etwa in der entscheidenden Schlacht um die nordsyrische Stadt Kobanê 2014/2015. Beim Völkermord an den Jesid*innen durch den IS in der irakischen Stadt Sindschar unterstützen die YPG/YPJ die jesidische Bürgerwehr bei ihrem Einsatz, den Völkermord zu beenden, indem sie einen Fluchtkorridor freikämpfen.
Zugleich berichten Menschenrechtsorganisationen, wie z.B. Human Rights Watch, von Menschenrechtsverbrechen der PYD gegenüber der nicht-kurdischen Zivilbevölkerung in ihrem nordsyrischen Selbstverwaltungsgebiet.
Die Türkei sieht in dem autonomen, mehrheitlich kurdischen Korridor entlang der eigenen Südgrenze eine existentielle Bedrohung, die es zu beseitigen gilt. Mit einer ersten von drei Militärinvasionen in Nordsyrien rückt die türkische Armee zwischen dem 24. August 2016 und 29. März 2017 im Rahmen der “Schutzschild Euphrat” genannten Operation in Nordsyrien vor. Offiziell ist das Vorgehen sowohl gegen den „Islamischen Staat“ (kurz: „IS“) als auch gegen die kurdisch dominierten Syrian Democratic Forces (SDF) gerichtet. Tatsächlich richtet sich der Angriff ausschließlich gegen Letztere, mit dem Ziel, die Verschmelzung von Afrin mit den anderen Kantonen unter der Kontrolle der AANES zu verhindern.
Im Januar 2018 dringen die türkische Armee und mit ihnen verbündete bewaffnete Milizen in Afrin ein. Die sogenannte Militäroperation "Olivenzweig" dauert über zwei Monate und beginnt mit intensiven Luftangriffen, gefolgt von einer Bodeninvasion. Während der Invasion wird die überwiegend kurdische Bevölkerung aus ihren Häusern vertrieben und ihrer Lebensgrundlage beraubt.
Am 18. März 2018 wird die Stadt Afrin eingenommen. Alle Institutionen der autonomen Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien (AANES) werden umgehend aufgelöst und durch neue syrische Verwaltungsstrukturen unter Kontrolle der Türkei ersetzt. Die Milizen errichten eine Willkürherrschaft und begehen täglich Gräueltaten an der kurdischen und jesidischen Bevölkerung: Zivilist*innen werden willkürlich verhaftet, gefoltert, vergewaltigt und getötet. Dies führt zur systematischen Vertreibung der mehrheitlich kurdischen Bevölkerung.
Die Feiern zu Newroz, dem kurdischen Neujahrsfest, werden verboten. Nach und nach ändern die Milizen die kurdischen Lehrpläne und Straßenschilder ins Türkische oder Arabische.
Am 11. März 2021 fordert das Europäische Parlament die Türkei auf, sich aus Syrien zurückzuziehen und bezeichnet die militärische Präsenz Ankaras als „Besatzung“. Human Rights Watch weist bereits vorher darauf hin, dass die türkische Präsenz im Nordwesten und Osten Syriens als Besatzung zu verstehen ist.
Am Abend des 20. März 2023 schießen drei Angehörige der Jaysh al-Sharqiya Miliz, die zur oppositionellen Syrischen National Army (SNA) gehört, auf eine kurdische Familie. Diese hat zur Feier des kurdischen Neujahrsfests Newroz im Viertel Salah al-Din in der Stadt Jindires im ländlichen Afrin ein kleines Feuer entzündet. Die Kugeln töten vier Mitglieder der Familie und verletzten ein Fünftes schwer.
Gemeinsam mit sechs Überlebenden der Taten reicht das ECCHR, Syrians for Truth and Justice (STJ) und ihre Partner*innen im Januar 2024 eine Strafanzeige bei der deutschen Bundesanwaltschaft ein, in der sie zu umfassenden Ermittlungen wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit auffordern. Diese Menschenrechtsverletzungen sind Völkerrechtsverbrechen und können überall auf der Welt, also auch in Deutschland, verfolgt werden.
Am Morgen des 27. Februar wird die syrische Menschenrechtsaktivistin Heba Haj Aref in der Stadt Bza'a im östlichen ländlichen Gouvernement Aleppo tot aufgefunden. Sie wurde erhängt. Die Frauenrechtsaktivistin steht schon länger auf der „Schwarzen Liste“ der pro-türkischen Milizen und war zuvor mehreren Verleumdungs- und Schmutzkampagnen verschiedener bewaffneter Gruppen aus den Reihen der SNA ausgesetzt, die weder von den örtlichen Behörden noch von den militärisch Verantwortlichen in der Region aufgeklärt wurden. Heba Haj Aref war Mitglied der Syrischen Politischen Frauenbewegung, des Syrischen Frauennetzwerks, der Women's Support and Empowerment Unit und des Gemeinderats der Stadt Bza'ah.
Zahlreiche Institutionen, darunter das US-Außenministerium und die VN- Untersuchungskommission (UN-COI), stellten zahlreiche durch SNA-Milizen begangene Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit an der mehrheitlich kurdischen Bevölkerung fest. Überlebende berichten insbesondere über willkürliche Inhaftierungen, Folterhandlungen, sexualisierte Gewalt, gezielte Tötungen, gewaltvolle Zwangsräumungen und Plünderungen, die Zerstörung von kurdischen Kulturgütern und die daraus resultierende Vertreibung. Die Foltermethoden wiederholen sich und werden von unterschiedlichen Gruppierungen in verschiedenen Gefängnissen in Afrin angewandt, was ein weiterer Hinweis auf deren Systematik ist. Angehörige der Söldner übernahmen die Häuser der Vertriebenen; Äcker und Olivenhaine werden geplündert; die Bevölkerung wurde und wird zwangskonvertiert und assimiliert; kurdische Namen werden ausgelöscht.
Von den genannten Taten ebenso betroffen sind auch die Jesid*innen, die neben anderen Minderheiten in Afrin leben. Ihre Verfolgung geschieht meist aufgrund mehrerer Diskriminierungsgründe - wie Religion, Ethnizität und/oder Geschlecht. Dadurch sind die Unrechtserfahrungen der Überlebenden vielfältig und die Folgen der Verbrechen multidimensional.
Die völkerstrafrechtlich relevanten Gewalttaten werden in der Strafanzeige im Einzelnen auf den Seiten 38–65 dargestellt und Beweisangebote zu ihrer weiteren Aufklärung unterbreitet.
Bereits kurz nach Abschluss der Militäroperation im März 2018 begannen organisierte Bevölkerungstransfers von Syrer*innen aus der Türkei nach Afrin. Sowohl Human Rights Watch als auch Amnesty International berichteten, dass Syrer*innen in der Türkei „aufgegriffen, festgehalten und gegen ihren Willen“ zurück nach Syrien gebracht wurden. Die Organisation Syrians for Truth and Justice (STJ) dokumentierte die gewaltsame Rückführung von 155.000 syrischen Flüchtlingen zwischen 2019 und 2021 aus der Türkei nach Syrien. Daneben wurden Binnenvertriebene aus dem ganzen Land dazu aufgerufen, nach Nordsyrien umzusiedeln. Die Umsiedlung selbst wurde vom türkischen Militär und humanitären Organisationen unterstützt. Das Ausmaß und die Systematik der oben beschriebenen Gewalttaten gegen Eigentum, Leib und Leben der ursprünglichen Bevölkerung, die zu deren Flucht führten, legen nahe, dass es sich dabei um ein planvolles Vorgehen zur Veränderung der Bevölkerungsstruktur handelt.
Details über das geplante Vorgehen zur Veränderung der Bevölkerungsstruktur befinden sich auf den Seiten 61–65 der Strafanzeige.
Bislang standen die Verbrechen des Assad-Regimes und islamistischer Gruppen, wie Jabhat al-Nusra und ISIS, im Fokus der Ermittlungen der Bundesanwaltschaft. Überlebende der Verbrechen in Afrin fordern daher die Bundesanwaltschaft zu umfassenden Ermittlungen ebenfalls gegen diese Täter auf.
„Drei Jahre nach meiner Entlassung aus dem Gefängnis befinde ich mich immer noch in einem schmerzhaften Albtraum. Alles, was ich in Afrin erlebt habe, war grausam. Weil ich weiß, dass die Bevölkerung noch immer unter ähnlichen Bedingungen leben muss, habe ich es mir zur Aufgabe gemacht, die Welt auf das Unrecht aufmerksam zu machen, in der Hoffnung auf Gerechtigkeit und dass die Täter zur Verantwortung gezogen werden”, sagt eine Überlebende und Anzeigeerstatterin.
Dieser Beitrag von Weltzeit/Deutschlandfunk Kultur gibt Einblicke in geschichtliche und politische Hintergründe zur Invasion Afrins. Zeug*innen erzählen von ihren gewaltvollen Haftbedingungen und Foltererfahrungen unter den Milizen.
In dem musikalisch begleiteten Panel diskutieren die politische Aktivistin Sabiha Khalil, Journalist Erkan Pehlivan und Rechtsanwalt Patrick Kroker gemeinsam mit der Journalistin Kristin Helberg die politische Situation in Afrin und den anhaltenden Kampf der Betroffenen für Gerechtigkeit und darüber, wie westliche Mächte im Kampf gegen Ungerechtigkeit mit zweierlei Maß messen.
Mit Sabiha Khalil (Syrisch-Kurdische feministische Aktivistin), Patrick Kroker (Rechtsanwalt, European Center for Constitutional and Human Rights) und Erkan Pehlivan (Journalist). Moderation von Kristin Helberg (Journalistin). Musik von Wassim Mukdad (Musiker, Komponist) und Neroda Mohamad (Musiker).
Völkerstraftaten betreffen meist sehr viele Menschen, häufig gar ganze Bevölkerungen. Sie gehen deshalb nicht nur die Personengruppen an, an welchen sie unmittelbar begangen werden, sondern berühren die internationale Gemeinschaft als Ganzes. In vielen Sprachen heißen sie Verbrechen gegen die Menschheit („humanity“). Damit appelliert das Völkerstrafrecht an das Gewissen der Menschen, denn es knüpft an die im Laufe des zwanzigsten Jahrhunderts begangenen unvorstellbaren Gräueltaten an. Völkerstraftaten bedrohen den Frieden und die Sicherheit der Welt sowie das Wohl der Menschheit insgesamt und sind insofern schwerste Verbrechen von internationalem Belang. Sie dürfen nicht ungestraft bleiben.
Bei Verbrechen gegen die Menschlichkeit müssen Einzeltaten im Rahmen eines ausgedehnten oder systematischen Angriffs gegen eine Zivilbevölkerung begangen werden. Dagegen sind Kriegsverbrechen schwerwiegende Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht, die im Rahmen eines bewaffneten Konflikts von Kriegsparteien begangen werden oder in engem Zusammenhang mit der Kriegsführung stehen. Dabei kann es sich um einen internationalen oder nicht-internationalen bewaffneten Konflikt handeln.
Dass eine wirksame Verfolgung dieser Taten stattfindet, liegt in der Verantwortung der internationalen Gemeinschaft, aber auch der einzelnen Staaten. Unsere Anzeige erinnert und appelliert an diese Verantwortung.
Verbrechen gegen die Menschlichkeit sind Verstöße gegen das Völkerrecht, die durch systematische Gewalt gegen die Zivilbevölkerung gekennzeichnet sind.
Kriegsverbrechen sind schwere Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht, die in bewaffneten Konflikten begangen werden.
Detaillierte Ausführungen der rechtlichen Normen des Sachverhalts – die rechtliche Würdigung – beginnen ab Seite 70.
März 2024
© 2024 ECCHR
Syrians for Truth and Justice und Partner*innen
Gerechtigkeit für Afrin: Die unbeachteten Verbrechen in Syrien, Kurzfilm produziert von Limo for Research, European Center for Constitutional and Human Rights und Syrians for Truth and Justice. In Kooperation mit Sebastian Cobler Stiftung und Rosa- Luxemburg-Stiftung
Voices for Afrin: The Overlooked Atrocities in Syria, Panel in Kooperation mit Maxim Gorki Theater, 06.03.2024